"Ein Ort, von Gott geschaffen, ein
unfassbares
Geheimnis"
Der lange Weg von der Jugend-Bewegung zur erneuerten
Pfarrgemeinde -
Die Katholische Integrierte Gemeinde feierte "Fünfzig
Jahre unterwegs"
/ Von Guido Horst
FRASCATI (DT). Wer mit der Katholischen Integrierten
Gemeinde
ein Fest feiern will, muss sich etwas Zeit nehmen - entsprechend
dem Sinn der biblischen
Worte: "Komm und sieh".
Das erfuhren auch die vielen hundert Feiernden, die vor kurzem im
italienischen
Frascati zusammenkamen.
"Katholische Integrierte Gemeinde - Fünfzig Jahre
unterwegs" oder "Der lange Weg von der Jugend-Bewegung zur eneuerten
Pfarr-Gemeinde"
waren der Anlass des Festes. Mit am Anfang jenes Wegs, zu dem
eine
kleine Gruppe junger Katholiken aus den geistigen und materiellen
Trümmern
Hitler-Deutschlands in eine noch ungewisse Zukunft aufgebrochen ist,
stand
Traudl Wallbrecher, nach den kirchlich anerkannten Statuten die
"Vorsitzende
des Leitungsteams aller Katholischen Integrierten Gemeinden". Und
wer einer ihrer Einladungen folgt, erlebt nicht das übliche
"katholische
Wochenende" mit meditativen Seancen und Hagebuttentee. Sondern er
trifft auf Leute, die in einem Neuverstehen dessen, was in der
apostolischen
Zeit die Gemeinden der Christen waren, ungewöhn-
lich tief an den Wurzeln des Glaubens ansetzen.
Die Faszination einer Einladung
Die Albaner Berge bei Rom im schönsten
Oktober-Wetter.
Am Rande von Frascati liegt die Villa Cavalletti, einst Sommerresidenz
des Jesuitenordens und
seit wenigen Jahren im Besitz der Integrierten Gemeinde. Hier
kamen Mitglieder und Gäste der Gemeinschaft zusammen, um das Fest
zu feiern. Bischof Giuseppe Matarrese von Frascati, in dessen Dom
der Festgottesdienst stattfand, ließ sich die Gelegenheit nicht
entgehen,
die bunte Versammlung selber zu begrüßen, denn so oft kommt
es auch nicht vor, dass sich seine Kathedrale mit so viel Menschen aus
den verschiedensten Ländern füllt: Nicht nur aus Deutschland
und Italien waren sie gekommen, sondern auch aus Ungarn,
Österreich,
Tansania, den Vereinigten Staaten und Israel, womit sich die
Wirkungsgebiete
der Integrierten Gemeinde abzeichnen. Doch dazu später.
Mit ihrem Amtsbruder aus Frascati feierten Kardinal
Joseph Ratzinger und Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt sowie
Bischof
Christopher Mwoleka aus Rulende in Tansania den Gottesdienst.
Degenhardt
war als junger Theologe der Trauzeuge gewesen, als die gebürtige
Traudl
Weiß 1949 den Rechtsanwalt Herbert Wallbrecher aus Hagen in
Westfalen
heiratete. Die Messe fand auch in seinem Andenken statt.
Bis
zu seinem Tode im Jahr 1997 hatte Herbert
Wallbrecher wesentlichen Anteil daran, dass sich die
Integrierte
Gemeinde innerhalb der Kirche unabhängig von Kirchensteuermitteln
frei entwickeln konnte. Der von Peter Schneider geleitete Chor
der
Integrierten Gemeinde sang zur Begrüßung das "Locus iste"
von
Anton Bruckner: "Dies ist ein Ort, von Gott geschaffen, ein unfassbares
Geheimnis, er ist nicht zu begreifen."
In seiner Predigt über das Evangelium von der
verschmähten Einladung des Königs zum Hochzeitsmahl sagte
Kardinal
Ratzinger: "Der König will Hochzeit
machen und lädt dazu ein, zieht uns in sie hinein. Den
ersten
von Ihnen ist vor fünfzig Jahren die Faszination dieser Einladung
und mit ihr ein Funke der Freude ins Herz gefallen; ein Funke der
Hoffnung,
der zum Auftrag wurde und der Sie auf den Weg gebracht hat zu diesem
Fest
Gottes hin. Daraus ist die Integrierte Gemeinde gewachsen, die ja
nichts anderes sein will und sein soll als Weggemeinschaft der Kirche,
hin zum Reich Gottes, zur Hochzeit des Sohnes."
Der Kardinal sprach auch von der Geduld und der
Hoffnung, die nötig seien, damit sich die von Gott geschaffenen
Orte
füllten, aber auch von der "Prügel",
die sich gelegentlich jene einhandeln, die für diese Orte
werben.
Ratzinger hatte die Integrierte Gemeinde noch in seiner Zeit als
Theologieprofessor
in Regensburg kennengelernt. Es war eine schwierige Zeit.
Gegner,
der Integrierten Gemeinde' verleumdeten diese als Sekte. Auch
wenn
der damalige Erzbischof von München, Kardinal Julius Döpfner,
1976 in einer Presse-Erklärung feststellen ließ, er sehe die
Gemeinde als freie Gruppe in der katholischen Kirche an, womit die
Beurteilung
als Sekte ausgeschlossen sei, schlug der Gemeinschaft um Traudl
Wallbrecher
vor allem aus dem Erzbischöflichen Ordinariat in München viel
Misstrauen entgegen.
Dennoch hat Ratzinger, er war inzwischen Erzbischof
der Diözese, die Statuten der Integrierten Gemeinde 1978
genehmigt.
Die endgültige kirchliche Anerkennung folgte 1985 und wurde mit
Kardinal
Friedrich Wetter in Rom gefeiert. Bis heute ist Ratzinger der
Integrierten
Gemeinde als Freund und theologischer Gesprächspartner erhalten
geblieben.
Die Theologie der Integrierten Gemeinde hat einen
konkreten Ausgangspunkt. Am Abend vor dem Gottesdienst hatte
Traudl
Wallbrecher in der Villa Cavalletti vor den Mitgliedern und Gästen
- unter ihnen Kardinal Christoph Schönborn aus Wien und Bischof
Walter
Kasper vom vatikanischen Einheitsrat - darüber gesprochen: "Es
begann
mit der Erfahrung des Holocaust". 22 Jahre war sie alt, als sie -
kriegsdienstverpflichtet
in einem Münchner Krankenhaus
- Überlebende aus dem Konzentrationslager Dachau zu pflegen
hatte.
Zu Hunderten hatten amerikanische Soldaten im Mai 1945 die Opfer des
nationalsozialistischen
Rassenwahns in das Krankenhaus gebracht. Viele Halbtote und Sterbende
waren
darunter. Die Toten stapelte man in der Kapelle
des Hospitals. In wochenlangen Nachtwachen erkannte Traudl
Weiß
die unfassbaren Gräuel, für die später die Worte
Holocaust
und Auschwitz zum Inbegriff werden sollten. Knapp drei Jahre
später
legte Traudl Weiß die Leitung des katholischen Heliand-Bundes
nieder,
die ihr nach dem Krieg übertragen worden war, mehr ahnend als
wissend,
dass man nicht einfach Vergangenheit restaurieren kann.
Traudl Wallbrecher suchte etwas Neues - wie viele, die
nach dem Holocaust nicht zur Tagesordnung übergehen wollten
beziehungsweise
konnten. Jahrhunderte hatte das Abendland unter jenem Bund von Thron
und
Altar so gelebt, dass es sich schließlich das Attribut
"christlich"
erwarb - bis in seiner Mitte das organisierte Morden am jüdischen
Volk begann. Wie konnte es dazu kommen? Wo waren die
Christen,
als in Deutschland die Synagogen brannten? Prophetische Worte hat
Julius H. Schoeps (FAZ vom 1. 7. 1993) aus einem Flugblatt des Jahres
1848
zitiert: "Die Christen, die keinen Christusglauben mehr haben, werden
die
wütendsten Feinde der Juden sein... Wenn das Christenvolk
kein
Christentum mehr hat, dann ihr Juden, lasst euch eiserne Schädel
machen,
mit den beinernen werdet ihr die Geschichte nicht überleben!"
Hundert
Jahre später waren diese Worte Wirklichkeit geworden.
Frau Wallbrecher berichtete im Rückblick auf die
vergangenen fünfzig Jahre von einem Zeitpunkt, den die Integrierte
Gemeinde heute als den "Durchbruch zum jüdisch-christlichen
Denken"
bezeichnet. Es war ein junger getaufter Jude, Walter Cohen, der der
Gruppe
1953 begegnet war und bereits 1959 starb, dessen Hinweise auf die
jüdischen
Wurzeln des Christentums ("Jesus war ein Jude, kein Christ"), auf das
Alte
Testament und den Beginn der Geschichte des Volkes Gottes mit Abraham
zu
einer Wende in der theologischen Arbeit der Gruppe führten.
Sie lernten daran die Unterscheidung von religiösen und biblischem
Glauben und erkannten immer mehr als ihre Aufgabe, das unterscheidend
Christliche
nicht nur in der Theologie, sondern auch in der Praxis des Lebens
sichtbar
werden zu lassen. Die Gemeinschaft neuer Form, die ihre
Glaubenspraxis
als gelebte Annäherung an die traditionellen Begriffe vom "Leib
Christi"
und "Volk Gottes" versteht, erhielt dann schließlich Ende der
sechziger
Jahre über ihre Zeitschrift den Namen "Integrierte Gemeinde".
Eine Freundschaft mit den Juden
Der Garten zwischen der alten Villa
Cavalletti und
dem von der Gemeinde schon teilweise restaurierten mächtigen Wohn-
und Tagungsgebäude jüngeren Datums nebenan, von dessen
Dachterrasse
man noch den Petersdom in Rom und auf der anderen Seite über
Olivenhaine
hinweg weit in die Albaner Berge Richtung Castelgandolfo oder Rocca di
Papa sehen kann, bot Platz genug für einen Empfang nach der Messe
im Dom von Frascati. Kardinal Ratzinger
begrüßte einige jüdische Gäste, die aus Israel
in die Villa Cavalletti gekommen waren. Chaim Seeligmann, ein
israelischer
Kibbuz-Forscher, war vor Jahren auf die Integrierte Gemeinde aufmerksam
geworden, da ihn alles auf der Welt interessiert, was nur irgendwie an
die Lebensform der Kibbuzim erinnert. Aus einem Besuch und
Gegenbesuchen wurde schließlich vor vier Jahren eine feste
Beziehung
der Integrierten Gemeinde zu Juden aus säkularen wie aus
religiösen
Kibbuzim. Der sogenannte "Urfelder Kreis" entstand, in Anlehnung an den
kleinen Ort Urfeld am Walchensee, wo die Integrierte Gemeinde 1953
begann,
ein Blockhaus zu ihrem ersten Fest- und , Begegnungshaus
auszubauen.
Rudolf Pesch, der 1984 seinen Lehrstuhl für neutestamentliche
Exegese
an der Universität Freiburg aufgegeben hat, um in der Gemeinde als
Theologe zu leben und zu arbeiten, übernahm auf deutscher Seite
die
Koordination des "Urfelder Kreises". Er erinnert sich an diese
ersten
Kontakte mit den Juden. Eine wirkliche Freundschaft sei daraus
entstanden,
als man zusammen das Konzentrationslager Dachau besucht habe - für
beide Seiten eine ungeheure Überwindung, aber auch der
entscheidende
Schritt, um ohne Scheu gemeinsam auf die Vergangenheit zu
schauen - auch auf die Vergangenheit, die Juden und Christen
gemeinsam ist.
Antiochien als das Gegenbild
Am Abend zuvor hatte Traudl Wallbrecher zum
Holocaust Cordelia
Edvardson zitiert: "Die Welt zerbrach. Wer sie wiederherstellen
will,
muss wissen, wo sie zerbrochen ist". Wichtiger noch als die
Kirchenspaltungen
des Mittelalters ist für die Integrierte Gemeinde der frühe
Bruch
zwischen Juden und Christen, zwischen Kirche und Synagoge am Ende des
ersten
Jahrhunderts. Das Gegenbild von Auschwitz, so erläuterte
Titus
Lenherr, einer der Priester der Integrierten Gemeinde, sei nach dem
biblischen
Zeugnis in dem Ereignis zu erkennen, dass in Antiochien Juden und
Heiden
an einem Tisch zusammengeführt wurden. Da sei Gott an sein
Ziel
gekommen. Die Suche nach der verlorenen Einheit des einen Volkes
Gottes, das in die Synagoge und die Kirche auseinandergefallen ist, ist
eines der ganz zentralen Themen der Integrierten Gemeinde, so dass man,
die Gesprächskontakte mit den Juden im "Urfelder Kreis" als ein
besonders
kostbares unter den zarten Pflänzchen sieht, die in den
vergangenen
Jahren auf dem Boden der Gemeinde gewachsen sind.
Ein anderes ist die Arbeit der Gemeinschaft in
Tansania.
Dass beim Festmahl in den Speisesälen der Villa Cavalletti auch
afrikanische
Gesänge zu hören waren, geht auf einen Besuch von Bischof
Christopher
Mwoleka aus der tansanischen Diözese Rulenge zurück. 1977
besuchte
er die Integrierte Gemeinde in Deutschland - und am ein Jahr
später
mit dreißig Erwachsenen und vielen Kindern aus Tansania
zurück,
die bei den Mitgliedern der Gemeinde Aufnahme fanden und nicht nur eine
Schul- und Berufsausbildung, sondern auch eine Einführung in das
Leben
der Integrierten Gemeinde erhielten. Erst nach zehn Jahren
kehrten
die Tansanier mit deutschen Gemeindemitgliedem in ihre Heimat
zurück,
Niederlassungen der Gemeinde gibt es heute in der Diözese Morogoro
und in Dar-es-Salaam.
München, Hagen, Paderborn, Wangen, Bad Tölz,
Kochel, Augsburg und Wien: das sind die Orte im deutschsprachigen Raum,
auf die sich etwa tausend Mitglieder der Integrierten Gemeinde
verteilen.
Freunde, Förderer und Interessenten an vielen Orten kommen
hinzu.
Ein besonderer Ort ist die kleine Pfarrei Walchensee eine knappe Stunde
Autofahrt südlich von München. Die Pfarrei liegt auf dem
Gebiet
der Diözese Augsburg, und es war Erzbischof Josef Stimpfle, der
sie
1986 Priestern der Integrierten Gemeinde anvertraut hat. Gläubige
der Pfarrei sind ebenfalls nach Frascati gereist, um beim Jubiläum
mitzufeiern.
Sie erleben jeden Tag, was man fast als "operatives
Ziel"' der Gemeinschaft bezeichnen könnte: die Kirche, bestehend
aus
erneuerten Pfarrgemeinden. Zusammen mit Mitgliedern der
Integrierten
Gemeinde hat man in Walchensee eine kleine Grundschule aufgebaut und
einen
Kindergarten eingerichtet. Und der Gottesdienst am Sonntag
sammelt
wieder viele zu einem lebendigen tragenden Fundament des kirchlichen,
aber
auch des dörflichen Lebens. Eine überschaubare Gemeinde
- in der man weiß, warum man Christ und mit anderen Christen
zusammen
ist, in der Beruf, Familie und Glaube für den Einzelnen nicht in
unterschiedliche
Lebensbereiche zerfallen, sondern Ausdruck ein und derselben Berufung
sind
- das will die Integrierte Gemeinde sein. Und sie ist bereit,
diese
Erneuerung an viele Orte eines im zwanzigsten Jahrhundert müde
gewordenen
Volkes Gottes zu bringen.
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©
Die Tagespost / Guido
Horst
( Nr. 126/ Seite 5)
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