Soeben bei n-tv-Maischberger, 03.06.2002, Uhr 17,15
Zu Gast:
Marcel Reich-Ranicki, Literaturkritiker
Heinrich August Winkler, Historiker
Thema:
Walser-Debatte
--SM Sandra Maischberger
(Zitate nur sinngemäß und ohne Gewähr. Protokollierung nur nach Interessenlage und zeitlicher Möglichkeit von C.Elmar Schulte-Schulenberg. Oder: „Omne quod recipitur – ad modum recipientis recipitur.“ )
--
START
SM
Der neue Kanon von Ihnen 20 Titel, Kaiser (?) nur 5
Titel. Warum?
R
Differenziert Erzählungs- u. Romankanon.
SM
Goethes „Rezensent“ haben Sie einmal rezensiert?
Hassliebe zwischen Autor und Kritiker?
R
Goethes Rezensent war amüsant. Nicht wichtig. Keine Hassliebe.
SM
Bringt der Beruf des Kritikers zwangsläufig Feinde?
R
Ja. - Wer keine Feinde haben will, soll "Apotheker" werden.
SM
Literarische Spekulationen über Ihren Tod bedrückend für Sie?
R
Ja.
Meine Frau und ich sind tief von Walser verletzt. (Antisemitismus.)
Nie habe ich mir vorgestellt, dass Walser ein solches Buch schreiben würde.
Lediglich vom wunderbaren Suhrkampverlag habe ich
erwartet, dass er es nicht verlegt.
SM
Macht im Kulturbetrieb zu haben, heißt, man muss sich Kritik gefallen
lassen?
R
Macht, wenn ja, - zu wessen Gunsten habe ich sie verwendet? Sicher nur zu
Gunsten der Literatur.
SM
Kann man kritisieren ohne zu verletzen?
R
Es gibt ein Buch von mir über alle Walsertitel, - fast alle Kritiken
darin sind wohlwollend bis enthusiastisch .
SM
Warum ist Ihnen die Meinung von Grass oder Walser so wichtig?
R
Ich bin Grass dankbar, weil er sagte: Ich schreibe immer von mir selber.
SM
Sie sind heute anders als ich Sie sonst kenne? (resigniert)
R
Es liegt daran, dass ich den Roman von Walser gelesen habe.
SM
„Tabubruch“ wird z.zt. in vieler Hinsicht benutzt. Sind die Deutschen jetzt dabei, ihr Verhältnis zur Geschichte
neu zu definieren?
R
Ja.
SM
Antisemitismus für Sie in diesem Kontext ein Thema?
R
Weiß ich nicht. Bitte nötigen Sie mich nicht, Frau Maischberger.
(resigniert, deutlich verletzt)
SM
Was werden Sie morgen in Ihrer Sendung kritisieren?
R
Problem der (Literatur-)Preise. In den Jurys sitzt man mit Honoratioren, und
es werden dann verschiedene Kandidaten erörtert. Jedoch: Nur (bereits)
berühmte Schriftsteller sollen dann den Preis bekommen. Grass oder Walser
oder sonst noch höchstens einer. Immer das selbe.
(Klick auf Foto führt zu Miniclip mit Reich-Raniki)
SM
Kanzler sucht bekanntlich manchmal Rat bei Ihnen (als Historiker).
Hätten Sie dem Kanzler zu einem Gespräch mit Martin Walser geraten?
(„Moralkeule Auschwitz“ etc. bewusster Tabubruch)
W
Die Unterschiede sind sehr deutlich geworden. Schröders Position ist
ein Kontrastprogramm zu Walser.
SM
Walser – „gefühltes Geschichtsbewusstsein“?
W
Walser ist ein hochemotionaler Mensch, der große Vorurteile gegen
Intellektuelle hat.
SM
Warum wagt Walser sich in die Politik?
W
Walser treibt die Frage um. Es ist der Drang, die eigene Nation nicht in
der Rolle des Schurken stehen zu lassen. (Nationalapologet)
SM
Walser wer DKP-Mitglied. Warum jetzt rechte Positionen?
W
Schwankende Gefühlswelt.
SM
Neues Walserbuch passt in Ihr Bild vom „Verteidiger seiner Nation“?
W
Das jetzt benutzte Klischee ist voll geläufig und gehört den
antisemitischen Autoren.
Er wollte den
Skandal wohl.
SM
Walser wird breit gelesen. Was macht das, wenn ein solcher Autor gerade jetzt
Antisemitismus thematisiert?
W
Jetzt – im Wahlkampf – mit antisemitischen Ressentiments zu kalkulieren ist
schlimm.
Walsers lebt, schreibt voll nach seinem Gefühl.
Möllemann anderes Kalkül. Möllemann will Öffnung nach rechts.
SM
Wo sind wir in Deutschland angelangt? (Neue deutsche "Unbefangenheit"?)
W
Linke haben bisher gesagt, wir dürfen nie wieder militärisch agieren.
(Holocaust) Rot-Grün hat einen Lernprozess bewältigt. Und
das ist wichtig.
Weder der Fall Walser, noch der Fall Möllemann ist bisher ein Fall Deutschland.
Wenn Möllemann ohne Widerspruch bliebe, würde sich die Parteienlandschaft in Deutschland verändern. Der deutliche Widerspruch aber ist da. (Hamm-Brücher und viele andere)
Z.Zt. kommt das alte antisemitische Milieu einmal wieder hoch. Das ist keine substanzielle Änderung in Deutschland.
END
Bye!
charly1
( Carl-Elmar
Schulte-Schulenberg )
Reich-Ranicki, Marcel (*1920), Literaturkritiker. Er ist einer der einflussreichsten Rezensenten der deutschen Nachkriegszeit.
Reich-Ranicki wurde am 2. Juni 1920 in Wloclawek (Polen) geboren. 1938 wurde der Jude aus Berlin ins Warschauer Ghetto deportiert, wo er für die Ghettoverwaltung tätig sein musste: 1943 gelang ihm die Flucht. Nach dem Krieg war Reich-Ranicki zunächst Lektor und freier Schriftsteller in Warschau, bevor er 1958 in die Bundesrepublik übersiedelte. Dort arbeitete er in erster Linie als Literaturkritiker bei verschiedenen Zeitungen. Zeitweise war er wortgewaltiges Mitglied der Gruppe 47. Von 1960 bis 1973 betätigte sich Reich-Ranicki als Literaturredakteur der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit; 1973 wechselte er als Leiter des Literaturteiles zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er bis 1988 blieb. Neben seiner publizistischen Tätigkeit lehrte Reich-Ranicki ab 1968 als Professor an verschiedenen Universitäten und Hochschulen im In- und Ausland. Seit 1974 hat er eine Honorarprofessur an der Universität Tübingen inne. Seit 1976 ist Reich-Ranicki Herausgeber der Frankfurter Anthologie (jeweils 60 Gedichte mit Interpretationen). In den Jahren 1989 und 1990 edierte er die dreibändige Reihe Romane von gestern, heute gelesen. Auch betreute er die Schriften Alfred Polgars und Wolfgang Koeppens. 1997 verlieh die Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität Reich-Ranicki die Ehrendoktorwürde. Nach Uppsala, Augsburg und Bamberg war dies für den Literaturkritiker die vierte Auszeichnung dieser Art.
In den neunziger Jahren erschienen zahlreiche Essays und Aufsatzsammlungen
Reich-Ranickis, darunter solche zu Hilde Spiel, Thomas Mann, Max Frisch, Thomas
Bernhard, Günter Grass, Martin Walser, Heinrich Böll, Vladimir
Nabokov sowie zur deutschen Literatur der DDR (Ohne Rabatt. Über Literatur
aus der DDR, 1991). Weitere Werke des Autors sind Deutsche Literatur in Ost
und West (1963, erweitert 1983), Lauter Verrisse (1970, erweitert 1984),
Entgegnung. Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre (1979), Herz, Arzt
und Literatur (1987), Lauter Lobreden (1989), Der doppelte Boden (1992),
Die Anwälte der Literatur (1994), Die verkehrte Krone. Über Juden
in der deutschen Literatur (1995) und Der Fall Heine (1997). 1999 veröffentlichte
Reich-Ranicki seine Autobiographie Mein Leben, die zum Bestseller wurde.
Im gleichen Jahr wurde ihm der Hessische Kulturpreis verliehen.
Suhrkamp Verlag, 1942 von Peter Suhrkamp
gegründeter Verlag mit Sitz in Frankfurt am Main, zu dem heute auch noch
der Insel Verlag, Nomos (Baden-Baden) und der Klassiker Verlag gehören.
Im Laufe seiner Geschichte hat er sich mit zeitgenössischer deutschsprachiger
und internationaler Literatur ebenso wie mit einem geisteswissenschaftlichen
Programm ein Profil erworben, das zentrale gesellschafts- und kunsttheoretische
Werke umfasst. Zu den Hauptautoren zählen u. a. Theodor W. Adorno, Roland
Barthes, Samuel Beckett, Walter Benjamin, Hans Magnus Enzensberger, Jürgen
Habermas, Uwe Johnson, Wolfgang Koeppen, Herbert Marcuse, Martin Walser,
Peter Weiss und Ludwig Wittgenstein. Renommierte Reihen sind etwa die Bibliothek
suhrkamp (seit 1951, 1989 erschien Band 1000), die edition suhrkamp, das
suhrkamp taschenbuch, das suhrkamp taschenbuch wissenschaft, die Edition
Zweite Moderne, Spectaculum. Moderne Theaterstücke, die Phantastische
Bibliothek und die Polnische Bibliothek. [...]
Walser, Martin, * Wasserburg (Bodensee) 24.
3. 1927, dt. Schriftsteller. 1949-57 Rundfunkredakteur; schreibt neben Novellen
(u. a. ›Ein fliehendes Pferd‹, 1978) zahlr. Romane (u. a. ›Ehen in Philippsburg‹,
1957; die Trilogie ›Halbzeit‹, 1960, ›Das Einhorn‹, 1966, ›Der Sturz‹, 1973;
›Seelenarbeit‹, 1979; ›Brandung‹, 1985; ›Die Jagd‹, 1988; ›Die Verteidigung
der Kindheit‹, 1991; ›Ohne einander‹, 1993; ›Finks Krieg‹, 1996), die ein
krit. Bild der dt. Nachkriegsgesellschaft zeichnen; auch Theaterstücke
(u. a. ›Eiche und Angora‹, 1962, revidiert 1963; ›Überlebensgroß
Herr Krott‹, 1964) und Hörspiele. 1981 Georg-Büchner-Preis, 1998
Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
(c) Meyers Lexikonverlag.
"[...]
1998 erhielt Walser den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die in diesem
Rahmen gehaltene Preisrede führte zu einer heftigen Kontroverse in der
deutschen Öffentlichkeit, da darin von einer „Instrumentalisierung” des
Gedenkens an den Holocaust die Rede war: Der Vorsitzende des Zentralrats der
Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, warf Walser vor, ein „geistiger Brandstifter”
zu sein. In zahlreichen Beiträgen in der Tages- und Wochenpresse meldeten
sich Politiker (u. a. der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi und der ehemalige
Bundespräsident Richard von Weizsäcker), Schriftsteller wie Jürgen
Fuchs, Peter Turrini und Marlies Menge sowie Publizisten, z. B. Jan Philipp
Reemtsma und Klaus Harpprecht, zu Wort.[...]
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Kanon
4. [von den alexandrinischen Grammatikern aufgestelltes] Verzeichnis mustergültiger
Schriftsteller [der Antike].
(c) Dudenverlag. Fremdwörterbuch
"[...]die Deutschen jetzt dabei, ihr Verhältnis zur Geschichte neu zu definieren?[...]
Der nachfolgende Auszug gibt Teile einer Rede wieder, die
der damalige israelische Präsident Ezer Weizman am 16. Januar 1996 im
Deutschen Bundestag gehalten
hat. In dieser Ansprache beschäftigte sich Weizman mit
den Beziehungen zwischen Deutschen und Juden sowie mit dem Stand des nahöstlichen
Friedensprozesses.
Ezer Weizman: Rede im Deutschen Bundestag
„Tausend Jahre und länger lebten Juden in Deutschland. Bis zur Zerstörung
durch die Nationalsozialisten war dies die größte und älteste
jüdische Gemeinde in
Europa, von den ersten Kaufleuten, die im Gefolge der Römer hierher kamen,
bis zu den Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts, von Kalonymus bis Mendelssohn,
von der Fuldaer Ritualmordbeschuldigung bis zu den Schrecken der Reichspogromnacht,
vom Schandmal bis zum Gelben Fleck, von den antisemitischen Schriften
Martin Luthers bis zu den Nürnberger Gesetzen, von der Schriftauslegung
Raschis bis zur Lyrik Heinrich Heines.
Rabbenu Gershom, die Leuchte des Exils, Walter Rathenau, Martin Buber, Franz
Rosenzweig, Albert Einstein – dies sind nur einige Namen, die dieses Land
gekannt hat.
Unter den Millionen Kindern meines Volkes, die die Nazis in den Tod geführt
haben, waren weitere Namen, an die wir heute mit dem gleichen Maß an
Ehrfurcht und
Hochachtung erinnern könnten. Doch wir kennen diese Namen nicht. Wie
viele Bücher, die niemals geschrieben wurden, sind mit ihnen gestorben?
Wie viele
Symphonien, die niemals komponiert wurden, sind in ihren Kehlen erstickt?
Wie viele wissenschaftliche Entdeckungen konnten nicht in ihren Köpfen
heranreifen?
Jeder und jede Einzelne von ihnen ist zweimal getötet worden: einmal
als Kind, das die Nazis in die Lager geschleppt haben, und einmal als Erwachsener,
der er oder
sie nicht sein konnte. Denn der Nationalsozialismus hat sie nicht nur ihren
Familien und den Angehörigen ihres Volkes entrissen, sondern der gesamten
Menschheit.
Als Präsident des Staates Israel kann ich über sie trauern und
ihrer gedenken, aber ich kann nicht in ihrem Namen vergeben. Ich kann nur
fordern, meine Damen und
Herren Abgeordnete des Bundestages und des Bundesrates, dass Sie in Ihrem
Wissen um die Vergangenheit Ihre Sinne auch auf die Zukunft richten, dass
Sie jede Regung des Rassismus wahrnehmen und jede Regung des Neo-Nazismus
zerschlagen, dass Sie diese Elemente mutig zu erkennen wissen
und von der Wurzel her ausreißen, auf dass sie nicht wachsen und
Zweige und Wipfel bekommen.
Ich vermute, dass auch für Sie, meine Damen und Herren, der Besuch des
israelischen Staatspräsidenten einige nicht leichte Momente mit sich
bringt. Doch wir
treffen uns hier nicht als Privatpersonen, sondern als Abgesandte souveräner
Staaten, und wir müssen das Gemeinsame finden, um die von uns gesteckten
Ziele
anzusteuern und zu erreichen.[...]“
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